Das Seidenweber-Qigong

Taiji ist ein weltweit stark verbreiteter Gongfu-Stil, bei dem es darum geht, an seinen körperlichen, geistigen und mentalen Fähigkeiten beständig zu üben, um Persönlichkeit und körperliche Vitalität zu erlangen. Das Taijiquan-Training ist hierbei der Übungsweg und das Taiji-Prinzip die Methode oder Anleitung, die uns auf diesem Weg vorankommen lässt. Ergebnis dieses Übens könnte ein auf körperlicher und geistiger Ebene gereifter und verantwortungsvoller Mensch sein, der bei guter Gesundheit die Vielfältigkeit des Lebens besser versteht und länger genießen kann.

Aber reicht es wirklich aus, sich einfach langsam und bewusster zu bewegen oder ist das Taiji-Training weitaus komplexer? Welche Basisübungen benötigt es im Taijiquan, um die ganze Tiefe und Komplexität dieses Weges zu erfahren? Wie auf allen Lebenswegen gibt es auch hier spezielle Grundlagenarbeit, die dem Einsteiger hilft, das System besser zu verstehen und es zu verinnerlichen. Beim Taijiquan ist eine sogenannte Basisarbeit das Seidenweber-Qigong. Die Seidenweber-Qigong (chin. Cansigong) oder Seidenspulen der Familie Chen bildet neben den Standübungen Zhan Zhuang die wichtigste Grundlage für den Trainingsweg. Erstmals richtig Erwähnung fanden die Übungen im Taijiquan Klassiker „Chenshi Taijiquan Tushuo“ von Chen Xin im 20. Jahrhundert. Chen Fake, eine berühmte Persönlichkeit in der Chen Linie, soll neben dem Formentraining und dem Krafttraining sehr viel Zeit mit dem Seidenweberspulen verbracht haben. Chen Fake hatte sich dadurch einen Ruf als großartiger Kämpfer im vergangenen Jahrhundert erworben. Auch heute noch gibt es in allen namhaften Taiji-Richtungen eigene Seidenweber-Sets, die nichts an Wichtigkeit und Inhalt verloren haben. Ich selbst habe schon unzählige Variationen und Bewegungsabläufe mit unterschiedlichen Schwerpunkten gesehen.

Wichtig ist nur, dass die Bewegungsprinzipien des jeweiligen Seidenweber-Sets, sich in den Formen des Taijiquan wiederfinden. Nur dann sollte man das Seidenweber-Qigong als basisbildendes Übungssystem bezeichnen. Jede Basis sollte Teil des Größeren sein, sich also in dem Haupttrainingsaspekt der Form auch wiederspiegeln.
Im Folgenden werde ich näher auf eine Seidenweber-Übung des Chen Stils eingehen, die aber auf alle anderen Taijiquan Richtungen übertragbar ist. Die darin enthaltenen Prinzipien können als stilübergreifend angesehen werden. Inspiriert sind meine Ausführungen durch das Training mit Meister Chen Ziqiang, dem Cheftrainer der Chenjiagou Taijiquan Xue Xiao und meinen eigenen Trainingserfahrungen.

Was sind Seidenweber-Übungen?

Die Seidenweberübungen sind in erster Linie Bewegungssets, die im Gegensatz zu den anderen Übungen aus dem Taijiquan noch relativ einfach gehalten sind. Wie in den meisten Basisübungen, sind hier nicht das komplexe Bewegungsmuster, sondern das routinemäßige, einfache Bewegungsprinzip im Vordergrund. Meist doppelt schulterbreite Standgröße und später mit Schrittfolgen in alle Richtungen kombiniert und erweitert, haben wir es mit äußerlich einfachen Bewegungsmustern zu tun. Diese laden dazu ein, beständig und in großer Anzahl wiederholt und trainiert zu werden.
Der Schwierigkeitsgrad liegt nicht im Äußerlichen, sondern im verinnerlichen des Bewegungsprinzips. Der Trainierende wird mit einem Konzept konfrontiert, dass nur durch achtsames und beständiges Üben im Körper kodiert wird, um später routinemäßig als Grundlage oder als Grundprogrammierung für alle weiteren Bewegungsabläufe des Taijiquan zur Verfügung zustehen. Trainiert wird unter anderem der Gewichtswechsel mit Blick auf impulsgebendes und empfangendes Bein, die dazugehörige aussteuernde Wirkung der Hüfte und der Kraftübertrag aus den Füßen bis in die jeweilige Körperpartie.
Der Trainierende entwickelt ein Gespür für den eigenen Raum und für die sogenannten Kraftkreisläufe, die sich im Wechselspiel von Ausdehnung und Komprimierung immer wieder spiralförmig durch den Körper bewegen. Diese Kraftkreisläufe können auf unterschiedlichen Ebenen trainiert werden.

Die am häufigsten vorkommenden Kreisläufe sind:

• seitlicher Kraftkreislauf nach außen gerichtet (Bild 1)
• seitlicher Kraftkreislauf nach innen gerichtet
• nach vorne gerichteter Kraftkreislauf (Bild 2)
• nach hinten gerichteter Kraftkreislauf

Bild 1

Bild 2

Die Knie dürfen dabei nicht nach innen fallen, ansonsten geht der Spannungsbogen und jene Mobilität verloren. Außerdem kann es langfristig zu Knieproblemen kommen. Beim Stand sind Hüfte und Gelenke entspannt und durchlässig, um jeden Impuls für den Gewichtswechsel fühlbar aus den Füßen aufsteigen zu lassen. Im empfangenden Bein entwickelt sich jeweils eine komprimierende Spiralkraft und im impulsgebenden Bein herrscht eine sich ausdehnende Spiralkraft. Die jeweilige komprimierte oder sich ausdehnende Spiralkraft steuert dabei stets auf einen Höhepunkt zu, so dass danach ein neuer
Zyklus entsteht. Aus dem Empfänger mit der komprimierenden Spiralkraft wird nach erreichen des Maximums wieder der Impulsgeber mit der sich ausdehnenden Spiralkraft und umgekehrt. Dieses Bewegungsspiel innerhalb der Gewichtsverlagerung wiederholt sich dann später permanent und sollte am Anfang lange und ausdauernd trainiert werden.

Hüftdrehung als umleitendes und steuerndes Prinzip

Als zweiten Punkt auf dem Übungsweg möchte ich ein paar Ideen zur Zentrumsbewegung machen. Ich werde mich dabei auf den Hüftbereich beziehen, der hier eine aussteuernde und lenkende Funktion hat. Ähnlich einer Schleuse, die Kraftfluss verstärken oder verringern kann und den Bewegungsfluss richtungsweisend ändert. Aber um die Verbindung von Gewichtsverlagerung und Hüftdrehung gut zu erlernen, empfiehlt es sich, die Hüftdrehung am Anfang sehr eckig und getrennt zu vollziehen. Das heißt, dass zum anfänglichen Üben eine Entkopplung von Gewichtung und Hüftdrehung geschehen sollte. Ich empfehle dazu eine Schrittfolge von 1-6, (siehe Darstellung) bei der jeder Trainierende erst mal ohne Hinzunehmen der Arme sich ganz auf einen genauen Gewichtswechsel und das Drehen der Hüfte konzentrieren kann. Beides wie beschrieben separat von einander, bis der äußere Ablauf verstanden und umgesetzt werden kann. Man beginnt dabei erst mit der Drehung der Hüfte, dann verlagert man langsam das Gewicht und dann folgt wieder eine Drehung und das Gewicht wird wieder zurück verlagert. Aber wichtig ist, dass nach dem groben Erlernen des äußeren eckigen Bewegungsflusses begonnen wird, die Bewegung runder und fließender zu üben. Ähnlich wie beim Radfahren und dem anfänglichen Gebrauch von Stützrädern, die nur dazu dienen, eine anfängliche Sicherheit und Balance zu geben. Aber später würde niemand mehr auf die Idee kommen, diese als Teil des Fahrrades zu betrachten. Genau so ist es mit der eckigen Einsteigervariante. Es ist eine Lernhilfe und eine Krücke, die es später einfach zu vergessen gilt. Sonst könnte es passieren, dass ein Hilfsmittel auf dem Trainingsweg versehentlich zum Prinzip gemacht wird.

Model zur Veranschaulichung der Trennung von Gewichtung und Hüftdrehung bei der seitlichen Seidenweberübung (Bild 3)

Bild 3

Die Herangehensweise

Mit Hilfe eines erfahrenen Lehrers werden also systemeigene Seidenwebersets kontinuierlich trainiert, so dass sich ein Weg eröffnet, der das Seidenweberrinzip anstelle der eigenen Bewegungsidee setzt. Später im Formentraining zeigt sich dann, ob die Prinzipien verstanden wurden. Theoretisch sucht und findet der Trainierende sein Seidenweberprinzip in allen Bewegungen wieder und füllt damit seinen Bewegungsfluss mit Kraft und geistiger Aufmerksamkeit. Jeder Einsteiger kann natürlich noch nicht die ganze Tragweite und Komplexität des Prinzips abschätzen. Deshalb sollte der Lehrer darauf achten, noch nicht von komplexen inneren Prinzipien zu tönen, sondern sich genau zu überlegen, worauf es für den Neuankömmling in der Trainingssituation wirklich ankommt.

Gewichtsverlagerung

Als erstes wollen wir uns jetzt der Gewichtsverlagerung widmen. Vorbereitet durch das Übungssystem des Zhan Zhuang, beginnt der Einsteiger doppelt schulterbreit bei der seitlichen Seidenweber-Übung zu stehen und seine neu gewonnene Stabilität in den ersten Übungen umzusetzen. Dabei empfiehlt es sich, jegliche Aktivitäten der Arme erst einmal beiseite zu lassen, um eine Konzentration auf die Beinarbeit zu ermöglichen. Der Einsteiger beginnt im gesunkenen Zustand einen klaren und deutlichen Gewichtswechsel zu vollziehen, unter besonderer Beachtung von impulsgebenden Bein (Yang-Charakter ) und empfangenden Bein (Yin-Charakter ). Als Impulsgeber oder impulsgebendes Bein bezeichnen wir dabei jenes Bein, welches den Wechsel initiiert. Das andere wird dann als Empfänger oder empfangendes Bein bezeichnet. Das empfangende Bein bildet den Rahmen und sorgt dafür, dass die ankommende Kraft aufgenommen wird. Die Gewichtsverlagerung ist ein Wechselspiel zwischen Impulsgeber und -Empfänger, bei dem ein ständiger Spannungsbogen zwischen den Beinen gehalten werden muss. Eine Spannung die einerseits Stabilität und Verwurzlung gewährleistet, aber auch dafür sorgt, dass eine permanente Beweglichkeit und Mobilität für den restlichen Körper vorhanden ist.

Der Gewichtswechsel erfolgt durch das impulsgebende Bein rechts hin zum empfangenden Bein links und wird durch eine Hüftdrehung kanalisiert.

Vom Eckigen zum Runden

Im Gegensatz zu einer beliebten Mannschaftssportart, wo das Runde ins Eckige muss, geht es beim Taiji-Training genau um das Gegenteil. Wie oben schon beschrieben, dürfen die Ecken schnell abgerundet werden und es soll eine runde und fließende Bewegung daraus hervorgehen. Um das besser zu erlernen, haben wir den Begriff der sogenannten Rotationspunkte eingeführt. Diese Punkte erhalten eine besondere Aufmerksamkeit während der Seidenweber-Übung und dienen als Garant dafür, dass die Bewegung rund und der Bewegungsfluss spiralförmig sich entfaltet. Außerdem dienen sie auch dem Lehrer als Anhaltspunkte für die wichtigen Körperkorrekturen bei Einsteigern. Zum Beispiel bei der Armhaltung obliegt dem Ellbogen eine enorme Wichtigkeit, ob die Schulter entspannt und verbunden ist. Wird der Ellbogen zum Beispiel zu hoch gehalten, kommt es in den meisten Fällen dazu, dass die Schulter ebenfalls zu hoch genommen wird. Dadurch kommt es zur Destabilisierung der gesamten äußeren Haltespannung (Peng).

Rotationspunkte sind bewegliche Körperpunkte, auf die größere Aufmerksamkeit fällt und die eine Führung der Bewegung übernehmen sollten. Sie kreieren Räumlichkeit und ermöglichen das Training des spiralförmigen Kraftflusses.

Eine mögliche Kraftausrichtung bei der seitlichen Seidenweberübung

Wenn es eckig funktioniert und ein genauer Gewichtswechsel möglich ist, dann kann der Trainierende sich dem fließenden Spannungsfeld von gleichzeitiger Gewichtsverlagerung und Hüftdrehung und das Hinzufügen der Armbewegung widmen. Jetzt geht jegliche Hüftbewegung mit einem Gewichtswechsel einher. Das Gewicht wechselt vom Empfänger zum Impulsgeber. Durch einen stabilen Stand wird die komprimierte Energie im Impulsgeber entladen, nach dem sie dort ein Maximum erreicht hat. Durch eine Hüftdrehung kommt es zu einer Initiation eines Gewichtswechsel auf das empfangende Bein.
Hüftdrehung und Gewichtswechsel sind dabei untrennbar miteinander verbunden. Die Hüfte kanalisiert und führt dabei die Kraft der Bewegung und ist dabei stets so verlagert, dass jegliche Haltespannung und Struktur erhalten bleibt.

Das Zentrum führt die Bewegung und kann bei stabilem Stand die ankommende Kraft aufnehmen und umleiten, so dass Zentrum und Körperstruktur stets erhalten bleiben. Außerdem kann sich die Kraft dann in jegliche Körperregion spiralförmig ausdehnen und entladen.

Das Gewicht befi ndet sich auf dem rechten impulsgebenden Bein (Abbildung 1). In diesem Bein herrscht eine komprimierte Energie vor, welche sich in der Bildfolge in ausdehnende Energie verwandelt. So wird der Gewichtswechsel iniziiert und das linke Bein dient dann als empfangendes Bein. Die Energie wird solange aufgenommen, bis die Komprimierung abgeschlossen ist. Dann wechselt wieder der Empfänger zum Impulsgeber und es fi ndet ein Gewichtswechsel zurück auf das rechte Bein statt. Die Hüfte fungiert dabei jeweils als Steuerzentrale und Verbindung zwischen Oberkörper und den Beinen. Die jeweiligen Rotationspunkte machen die Bewegung räumlich und sorgen für einen spiralförmigen und lebendigen Bewegungsfluss.

Aber was hier in einer Kurzfassung dargestellt ist, dauert mitunter, je nach Trainingspensum des Schülers einige Jahre. Zur einhändigen Seidenweberübung werden je nach System, noch beidhändige Sets mit Schrittkombinationen hinzukommen. Begleitet von ständiger Selbstreflexion und dem prüfenden Blick des Lehrers steht dem routinemäßigen Seidenweberspulen nichts mehr im Wege. Das Wort Routine ist hierbei sehr an eine achtsame und wache Geisteshaltung gekoppelt, denn jetzt beginnt der eigentliche Weg der Seidenweber-Übung. Der Schüler versucht all die oben aufgeführten Punkte zu vereinen. Die Bausteine sollen sich durch ständiges Wiederholen zu einer harmonischen Bewegung verbinden. Denn nur durch beständiges und aufmerksames Training, kann eine Basisübung zu dem werden, was sie ist: Eine kraftvolle Essenz, die sich in den einzelnen Taiji-Formen wiederspiegelt.