365 Tage – Ein Jahr Taiji-Training im Reich der Mitte
Quelle: https://www.sein.de
Mirko Lorenz Erlebnisbericht über sein Jahr in China, wo er mit täglich acht Stunden Taiji lernen sollte.
Die Sonne schickte Ihre ersten Strahlen in die alte Befestigungsanlage der letzten chinesischen Kaiserin Cixi. Da, wo sich einst der Adel von der großen Politik erholte, stand ich nun, um chinesische Kampfkunst zu lernen. Ich war in China angekommen. Ein Kindheitstraum, den ich mir mit Anfang zwanzig trotz großer innerer und äußerer Widerstände verwirklicht hatte. Für ein Jahr sollte ich nun täglich acht Stunden die Taiji lernen.
Ich hatte ganz klare Vorstellungen, wie das Jahr ablaufen sollte, und auch, was dabei herauskommen soll.
Ich bin gekommen, um einen chinesischen Meister zu finden. Der am besten – ähnlich wie in den alten Kungfu-Filmen – lange weiße Haare hat, in Rätseln spricht und alle Fragen des Lebens erklären kann. Aber schon am ersten Morgen sollte sich zeigen, was die Realität für mich bereit hielt: harte Arbeit.
Es war November und es gab den ersten Schnee. Um fünf Uhr hieß es aufstehen und Schnee schaufeln. Anstelle des morgendlichen Laufens und des Qigong- Trainings war meine heutige Waffe ein Reisigbesen. Es war weit unter null Grad, und ohne Handschuhe und nur mit einer dünnen Jacke bekleidet war es eine wirkliche Qual. Meine Gedanken kreisten umher und dunkle Gefühlswolken überschatteten diesen prachtvollen Sonnenaufgang. Willkommen in der Realität. Ich dachte tatsächlich ans Aufgeben. Ans Aufgeben schon am ersten Tag?
Diese Gefühle sollten noch öfters auf meinem Weg auftauchen. Auch wenn ich dann bald wusste, dass sie auch wieder gehen. Dass Freude und Qual dazugehören und dass jede Medaille zwei Seiten hat, ähnlich dem Yin und Yang, hatte ich damals noch nicht verinnerlicht. Mir gefielen eindeutig die sonnigeren Tage mehr als die schmerzhaften Erfahrungen. Aber eins verstand ich ziemlich schnell: Das Erlernen einer Kampfkunst ist ein Weg voller Anstrengung und hartem Training.
Die Chinesen nennen das Gongfu. Durch beständiges Üben seine Fähigkeiten verbessern. Und Taiji war und ist ein Gongfu-Stil, bei dem ich Grundübungen und Basistraining hundertfach zu wiederholen hatte. Einen Bewegungsablauf wieder und wieder zu üben, bis eine kaum merkliche Geste des Lehrers eine neue Trainingssituation ankündigt. Dies sollte mein Tagesablauf für 365 Tage sein und zu einer echten Herausforderung für mein ungeduldiges Wesen werden.
Taiji in China – Boxformen und Energiearbeit
Die Geschichte des Taiji beginnt in der chinesischen Provinz Henan. Dort, im Distrikt Wen, gibt es den kleinen Ort Chenjiagou, der heute als Ursprungsort dieser Kampfkunst gilt.
Auch wenn die Qigong-Elemente, die Teil des Trainings sein müssen, bedeutend älter sind, kann man doch sagen, dass unser heutiges Taiji im 17. Jahrhundert entstanden ist. Als Gründer gilt ein General namens Chen Wangting. Er verband Boxformen und die Energiearbeit Qigong, um so den Grundstein für alle weiteren Taiji-Stile zu legen. Daraus sind dann im Laufe der Zeit weitere Stilrichtungen entstanden. Die bekanntesten sind Chen, Yang, Sun und Wu. Die Namen bezeichnen dabei jeweils die unterschiedlichen Familien oder Clans, innerhalb derer dann die Bewegungskunst weitergegeben wurde.
Meine erste Begegnung sollte ich mit dem Yang-Stil haben. Der Stil der Familie Yang ist der am weitesten verbreitete Stil überhaupt. Meist beginnen Schüler mit der 24er Pekingform. Die Pekingform hat 24 „Bilder“ oder Bewegungssequenzen, die in Zeitlupe zu laufen sind. Diese runden und fließenden 24 Bilder waren mein Einstieg in ein neues Körpergefühl. Auch wenn ich mich heute dem Taiji-Stil der Famile Chen widme, waren das meine ersten Schritte auf einem jetzt bereits 16 Jahre andauernden Lebensweg.
Das Training startete um fünf Uhr am Morgen mit einem Lauf, der mir um diese Uhrzeit echt schwer fiel. Angenehmer war da schon das morgendliche Qigong danach. Sich einfach eine Stelle im Wald zu suchen, den Blick auf die aufgehende Sonne zu richten und das morgendliche Qi, die Lebenskraft, zu wecken, war ein gigantisches Erlebnis.
Ein Teil des Trainings, der mich bis heute begleitet, ist das sogenannte Stehen wie ein Baum. Stehen wie ein Baum ist eine unscheinbare Übung, die es in verschiedenen Stellungen gibt. Die Grundidee dahinter ist, Bewegungslosigkeit und Stille in einer lotrechten und gleichzeitig abgesenkten Körperhaltung zu üben. Der Anfang ist etwas gewöhnungsbedürftig, denn bei uns dreht sich schließlich heute alles um Bewegung, Abwechslung und Geschwindigkeit. Deshalb erschließt sich nicht sofort der Sinn und Hintergrund dieser wirklich beeindruckenden Methode, mit der Übende im Laufe der Zeit wichtige Fähigkeiten entwickeln – wie Verwurzlung (ein Zustand, der zu mehr Standfestigkeit und Balance führt), Zentrierung (Basis für eine Bewegung aus der Körpermitte, ein Dreh- und Angelpunkt für jegliche Bewegung) und etwas, das einfach Körperstruktur genannt wird: ein Körper, der als Ganzes arbeitet und seine Kraft optimal einsetzen kann, aber trotzdem weich und flexibel ist.
Durchhaltevermögen und Disziplin im Taiji
Außerdem entstehen echtes Durchhaltevermögen, Disziplin und die Ausrichtung des Geistes auf die aktuelle körperliche Aktivität. Die Aufmerksamkeit bleibt bei dem, was der Körper gerade tut, und wandert nicht umher. Dies führt zu einer Einheit von Körper und Geist und damit zu Persönlichkeit und Stärke im Handeln. All das sind Eigenschaften, die mir heute noch in vielen Lebenssituationen unglaublichen Nutzen bringen. Das aufrechte Stehen ist zudem immer der erste Schritt auf dem Taiji-Weg, denn ohne Stehen kein Gehen und somit auch kein Fortschritt.
Nach dem morgendlichen Training freute ich mich immer auf das Frühstück. Besonders an kalten Tagen waren die chinesischen Hefedampfbrötchen, die es täglich gab, ein echtes Highlight. Um uns den Tag zu versüßen, kombinierte auch ich die Brötchen mit warmer Milch und warmem Honig. Dazu gab es immer eine Art Reisschleimsuppe mit Sauergemüse. Hierbei ist die Wirkung und der Geschmack besser als der Name jener Suppe, die für Millionen von Chinesen zum täglichen Morgenritual zählt. Ihr wird in der traditionellen chinesischen Medizin eine klärende und entgiftende Wirkung nachgesagt.
Echtes Können
Viel Zeit zum Verdauen blieb nicht. Um neun Uhr begann schon wieder der Unterricht. Tägliches Stretching, um Flexibilität und Geschmeidigkeit zu erreichen, gehörte genauso dazu wie das unzählige Wiederholen der Tritt-und Bewegungstechniken. Nach dem ersten Monat schmerzten meine Beine so unglaublich, dass ich sie nur noch bis Kniehöhe heben konnte. Aber schon nach kurzer Zeit ging es ihnen wieder besser und mir wurde klar, dass sich echtes Können nur durch dieses beständige Üben und Wiederholen erreichen lässt.
Die ersten Tropfen der Erkenntnis waren bereits in mich gefallen. Das hieß aber nicht, dass mir mein tägliches Training der Taiji-Formen leichter fiel. Ich würde sogar sagen, ich konnte das etwas monotone und langsame Training überhaupt nicht ausstehen. Ich kämpfte mit extremer Müdigkeit und mein Geist sehnte sich nach Abwechslung.
Ich verstand am Anfang den Sinn nicht, etwas im Schneckentempo machen zu müssen. Erst später realisierte ich, dass nur so die Bewegungsprinzipien wahrgenommen und verstanden werden können. Der Schüler versucht hierbei Kraftkreise und Spiralen, die im Bewegungsfluss erkennbar werden, zu verinnerlichen, die Bewegung über die eigene Mitte zu steuern und den Geist fokussiert und entspannt zu halten. Ein wertvolles Nebenprodukt ist die Entwicklung von Ruhe und Balance, was heute in der westlichen Welt sehr von Nutzen ist.
Trainingselement Meditation
Mittlerweile hatte ich auch mit dem Chen-Stil Bekanntschaft gemacht und mich auf das Studium der Langform mit 83 Bildern eingelassen. Ich ahnte noch nicht, dass dies meine Taiji-Richtung bleiben würde. Damals wusste ich auch noch nicht, dass mein Weg noch zu anderen Meistern in der asiatischen Welt führen und ich Jahre später selbst Schüler trainieren und ausbilden würde. An diesem Punkt trat noch ein weiteres Trainingselement in mein Leben: die Meditation. Dafür besuchte ich sehr oft den kleinen Tempel mit tibetischen Mönchen, deren Türen und Herzen immer sehr weit offen waren.
Ich verbrachte viele Stunden mit gekreuzten Beinen sitzend vor der zwei Meter großen Buddha-Statue, die im Gegensatz zu mir immer zu lächeln schien. Manchmal schliefen mir die Beine ein und ich konnte vor Schmerzen nicht mehr sitzen, aber stets kam ich wieder und saugte förmlich die dort herrschende Stille und Ruhe auf. Ich fühlte mich wie ein Schwamm, der allmählich mehr und mehr diese ganz spezielle Stimmung aufnahm und selbst zu Stille wurde.
Meine Taiji-Praxis hatte sich jetzt also noch um ein wichtiges Element erweitert. Neben dem morgendlichen Qigong, das ich mittlerweile jetzt oftmals auch noch am Abend nach dem Training praktizierte, gab es meine Basis-Übungen, das Formentraining und die Meditation.
Es war ein Programm, das den Körper in allen erdenklichen Richtungen stärken sollte. Yin, das weiche Prinzip, musste genauso ausgebaut, geformt und entdeckt werden wie das männliche Prinzip Yang, das durch alles gefördert wurde, was mit Geschwindigkeit, Kraft und Ausdauer zu tun hatte.
Schließlich rückte der Tag des Abschieds näher und ich erkannte dankbar, dass ich um viele wunderbare Erfahrungen reicher war. Erst Jahre später bemerkte ich noch ein weiteres großes Geschenk: Ich hatte nicht nur viel gelernt, sondern war auch innerlich sehr gewachsen. Zudem hatte ich meine Berufung, die heute immer noch Taiji heißt, gefunden – und mit ihr die Fähigkeit zu hoher Disziplin und Fokussierung auf mein Tun entwickelt. Was ich damals in den 365 Tagen gelernt hatte, konnte ich später auf alle Lebensbereiche übertragen und nutzen – und das ist immer noch so.
Artikel vom 29.06.2016 | https://www.sein.de